(M)ein Leben lang hatte ich ein konstantes Muster: Freundschaften, die sich anfangs tief, selbstverständlich und stabil anfühlten, lösten sich nach etwa zwei Jahren still auf. Kein Drama, kein Streit, kein greifbarer Grund. Sie versandeten einfach, als würde jemand leise den Ton herunterdrehen.
Lange dachte ich, das läge an mir. Ich sei zu intensiv, zu direkt, zu sensibel oder zu zurückgezogen. Irgendeine Variante von „zu viel“ oder „zu wenig“, je nachdem, wen man fragte.
Heute weiß ich: Ich bin neurodivergent.
Und plötzlich ergibt dieses Muster Sinn. Neurodivergenz beeinflusst, wie ich Nähe wahrnehme, wie ich kommuniziere und wie viel Energie soziale Kontakte kosten. Und das ist tatsächlich eine enorme Menge Energie, sobald ich „draußen unter Menschen“ bin. Der Beweis liegt jedes Mal auf der Hand. Nach einem Tag voller sozialer Eindrücke fühle ich mich wie verkatert. Ich bleibe das gesamte Wochenende im Pyjama, spreche kaum, bin still, in mich gekehrt und völlig erschöpft. Mein Nervensystem fährt erst langsam herunter, als hätte jemand die Sicherung überlastet.
Ich brauche Klarheit statt Interpretationen, Ehrlichkeit statt Andeutungen und Struktur statt dem üblichen sozialen Durcheinander. Viele Menschen bewegen sich jedoch genau in diesen Zwischentönen. Für sie ist indirekte Kommunikation selbstverständlich, höfliche Umschreibungen sind normal, und unausgesprochene Erwartungen gehören irgendwie dazu.
Für mich fühlt sich das oft an wie ein Gespräch in einer Sprache, die ich zwar höre, aber nicht intuitiv verstehe.
Seit knapp zwei Jahren entmaskiere ich mich bewusst. Ich lasse alte Strategien los, die mich früher geschützt, aber gleichzeitig ausgebremst haben. Seit Juni dieses Jahres bin ich zusätzlich in einer Verhaltenstherapie – und das verändert viel. Ich lerne, meine Reaktionen einzuordnen, meine Grenzen zu benennen und mich nicht mehr für meine Art zu denken und zu fühlen zu entschuldigen. Je mehr ich mich selbst verstehe, desto weniger verstricke ich mich in Beziehungen, die mir nicht guttun.
Und überraschend genug: Genau in dieser Phase entstehen Freundschaften, die mein altes Zweijahres-Muster durchbrechen.
Ich habe eine Freundin, die ich seit 2019 kenne – ebenfalls neurodivergent. Vielleicht ist das der entscheidende Punkt. Wir sprechen jeden Morgen miteinander, bevor unser Alltag beginnt. Kein Kraftakt, kein Smalltalk, kein Balanceakt. Es ist ein Kontakt, der nicht erschöpft, sondern einstartet. Und das Beste: Selbst ein einfaches „Ich mag heute nicht reden“ oder „Ich bin anderer Meinung“ ist kein Drama. Keine Unsicherheit, kein Rückzug, kein Interpretieren. Es gilt das, was gesagt wird – wörtlich, echt und ohne Herumgeeiere.
Auch meine Freundin und Kollegin, die seit 2023 an meiner Seite ist, bestätigt dieses neue Kapitel. Zwischen uns herrscht ein Kontakt, in dem ich mich nicht verstecken oder verstellen muss. Ich darf sein, wie ich bin – mit meiner Direktheit, meiner Feinfühligkeit und meinem eigenen Tempo. Meine Freundinnen und ich nutzen sogar klare Standardsätze, die Missverständnisse verhindern:
„Ich brauche Trost, keine Lösung.“ oder „Ich brauche keinen Trost, sondern ein lösungsorientiertes Gespräch.“
Das spart Kraft und schafft Vertrauen, weil nichts zwischen den Zeilen lauert. Und doch frage ich mich manchmal:
Wie hätte mein Leben verlaufen können, wenn ich all das früher verstanden hätte? Ohne die Spielchen, ohne das endlose Interpretieren, ohne den Trennungsschmerz, der jedes Mal wie ein stiller persönlicher Makel wirkte. Wie viel Leid, Selbstzweifel und Verlust hätte ich mir ersparen können, wenn ich schon als junges Mädchen gewusst hätte, warum ich „anders“ funktioniere? Wenn mir jemand gesagt hätte: „Das bist du – und das ist völlig in Ordnung“?
Diese Frage trifft mich besonders hart, wenn ich an meine Tochter denke.
Sie ist erst 13 Jahre alt und muss gerade ihre Diagnosen – Autismus Spektrum und ADHS – einordnen, verarbeiten und überhaupt verstehen. Sie weiß selbst noch nicht, wie groß der Umfang dieser Erkenntnis eigentlich ist. Wie sollen es also ihre ständig wechselnden Vertretungs-Lehrkräfte verstehen, die nur ihre perfekt eingeübte Maske sehen?
Bei diesem Gedanken zieht es mir das Herz eiskalt zusammen.
Ich wünsche ihr eine Welt, in der sie früher verstanden wird, als ich es je wurde. Eine Welt, in der sie sich nicht verstellen muss, um dazuzugehören. Eine Welt, in der sie Beziehungen lebt, die sie tragen – und nicht zermürben. All das zeigt mir heute deutlich: Das Problem war nie, dass ich Freundschaften nicht halten kann. Das Problem war, dass ich jahrelang versucht habe, Beziehungen in Strukturen aufrechtzuerhalten, die nicht zu meiner Art passen. Jetzt, wo ich mich selbst ernst nehme und nicht mehr gegen meine Natur arbeite, entstehen Verbindungen, die bleiben dürfen und Freundschaften, die nicht zufällig funktionieren, sondern weil man sich wirklich versteht.
Vielleicht beginnt mein eigentliches soziales Leben genau jetzt – in dem Moment, in dem ich endlich ich selbst bin.



