Neuro-was? Trauer? (Selbst-)Diagnose?

Aktuell wird ja das Netz überschwemmt mit neuen Ausdrücken wie Neurotypisch und Neuro-dingsda und so weiter! Aber was genau bedeuten diese verschiedenen Begriffe eigentlich? 

Ich versuche das hier mal ein wenig aufzudröseln: 

  • Neurotypisch: Ein Gehirn, was zum Großteil wie alle anderen Gehirne dieser Gesellschaft funktioniert. Jemand ist „normal“. (Wie ich diesen Ausdruck „normal“ hasse, darf man sich denken, denn eigentlich gibt es kein „normal“!)

 

  • Neurodivergenz: Das ist ein Gehirn, was einfach die Einzigartigkeit eines jeden Menschen widerspiegelt. Im Grunde sind wir alle mindestens neurodivergent. Denn jeder Mensch ist ja mit seiner eigenen Identität und seiner eigenen Individualität für sich. Kein Mensch ist gleich! Jeder Mensch hat doch im Grunde seine eigenen Macken und Spleens. (So viel zu „normal“, verstehste selbst, oder?)

 

  • Neurodiversität: Ein Gehirn, welches im Vergleich zu den neurotypischen Gehirnen einfach komplett anders funktioniert, wie zum Beispiel bei ADHS, Autismus und LRS. Hier gibt es einfach so unterschiedliche Gehirne wie es Betriebssysteme gibt: iOS, MS und Android zum Beispiel… Und dann sind da noch die völlig anderen Systeme wie Linux, von denen meist oft keiner was gehört hat, wenn man nicht grad ein Nerd ist. 

Bei diesen drei Begriffen oben handelt es sich aber auch tatsächlich nicht um eine offizielle medizinische Definition und daher kann auch keine klare Grenze gezogen werden zwischen den jeweiligen Unterteilungen. 

Und manche Menschen label auch Krankheiten wie zum Beispiel Depressionen als Neurodivergenz, anderen ist wiederum wichtig, wenn sie eine klare Abgrenzung zur Erkrankung haben und als Neurodiversität gelten. 

Und wieso sieht man jetzt so viele Menschen im Netz, die sich plötzlich outen als Spätdiagnostizierte oder Menschen, die gerade aktiv nach einer Diagnostik suchen?

Ganz einfach: 

Es gibt mittlerweile viel bessere Diagnostik-Verfahren (wobei Deutschland da immer noch Jahrzehnte sehr hinterher hinkt!), es gibt mehr Awareness über die Existenz vieler diese Diagnosen und die Vernetzung von Betroffenen ist durch Social Media inzwischen auch viel einfacher – nur um mal drei Gründe von vielen zu nennen! Zudem haben auch die Vorurteile und Stigma weiterhin große Auswirkungen auf den Alltag von Betroffenen – diagnostiziert oder nicht! 

Und da wären wir auch schon bei einem weiteren Thema:

Der (Selbst-)Diagnose-Prozess ist oft auch ein Trauerprozess! 

Ja, Trauer! Aber nicht, weil man plötzlich die bis dato unentdeckte Neurodivergenz oder Neurodiversität als Diagnose bei sich betrauert. Es geht da eigentlich viel tiefer! Man betrauert das Leben, was man vielleicht hätte leben können, wäre diese Diagnose, diese Neurodiversität schon viel früher bekannt gewesen! Wie häufig wurde man falsch oder verurteilend behandelt, wie oft wurde man gegaslighted? Meistens das sogar in den eigenen familiären Reihen! Die ganze tiefe Trauer in dem (Selbst-)Diagnose-Prozess und auch noch lange nach einer gesicherten Diagnose dreht sich um die vielen verpassten Chancen, denen man ausgesetzt war und irgendwie nie erhalten hat!

Unser Kind-Ich, unser Jugendlich-Ich, später das Erwachsene-Ich – alle diese Lebensabschnitte waren härter, als sie vielleicht mit mehr Akzeptanz oder Bewusstsein über eine Neurodivergenz hätten sein müssen! Man hätte sich nicht so oft falsch verstanden, unverstanden, oder gar gehasst fühlen müssen! Man hätte vielleicht nicht so oft allein, gemobbt oder missverstanden fühlen müssen! Man hätte sich gar nicht so oft einfach nur falsch und schlecht fühlen müssen! 

Hätte – hätte – Fahrradkette..

Und dann, nach einer (Selbst-)Diagnose gibt es diese kostbaren Momente, die einen so sehr erleichtern: 

  • Ich bin nicht faul! 
  • Ich bin nicht unfähig!
  • ich bin nicht unhöflich! 
  • Ich bin nicht selbstsüchtig! 
  • Ich bin nicht stur! 
  • Ich bin nicht falsch!

Und gleichzeitig holen uns all diese Trigger, die genau diese Situationen, in denen eben diese Eigenschaft unterstellt wurde, wieder ein! Sie überrollen uns wie eine Ohnmacht. 

Und dann gibt es da diese Hoffnung, dass die Menschen, die uns früher so fälschlicherweise behandelt haben, endlich verstehen könnten, und diese Ungerechtigkeit einsehen können und dass man endlich so akzeptiert wird, wie man einfach ist! 

  • Ich bin fleißig und mache so gut ich eben kann!
  • ich bin fähig und arbeite hart!
  • ich bin direkt und rede nicht um den heißen Brei!
  • ich bin stark und ziehe klare Grenzen!
  • ich bin engagiert und stehe für mich ein!
  • ich bin richtig! 

Und auch genauso gibt es leider auch weiterhin nach einer (Selbst-)Diagnose Enttäuschungen und erneutes Gaslightning. Es kommen harte Entscheidungen auf einen zu: wen lasse ich weiterhin Teil meines Lebens sein? Und unter welchen Bedingungen? 

Es kommt die Trauer hinzu um die Menschen, die man liebt, aber die einen nie so annehmen, wie man ist. Dieser Prozess ist nicht kurzweilig, er ist tatsächlich oft ein Prozess über Jahre. Das ist hart, sehr hart! Besonders dann, wenn es die eigene Familie ist… Man nimmt Abschied wie bei einem verstorbenen Menschen. Jedenfalls ist das meine eigene  Wahrnehmung bisher gewesen, denn ich befand mich nun bereits häufiger in diesem Prozess des Abschieds und der Trauer, um mich selbst einfach vor der Art und Weise zu schützen, wie diese Menschen mit mir umgingen. 

Und als wäre es nicht eh schon ziemlich viel, was man verarbeiten muss, kommt die Suche nach sich selbst. Man denkt darüber nach, wie das Leben verlaufen wäre mit Akzeptanz und Anteilnahme. Was wäre wohl passiert oder nicht passiert, hätte man sein Leben mit dem Wissen um die Nerodivergenz auf die Kette bekommen? Wer oder was bin ich denn gewesen all die Jahre, in denen ich so oft im Masking verbrachte und mir das alle Energie raubte? 

Dann die Ernüchterung; ADHS und Autismus sind Behinderungen in dieser Gesellschaft und das bringt es einfach mit sich, dass das Leben in der Regel anders verläuft als das von nichtbehinderten Menschen. Und auch hier geht es um Trauer, dieses Bild, die Vorstellung, die man vom Leben und sich selbst hatte, aufgeben zu müssen.

Hier kommt dann die Trauer um das Leben, was man letztendlich führt bzw. weiterhin führen wird. 

Und wenn man das erst mal begriffen hat (und das benötigt ebenso Zeit, die man sich wirklich nehmen sollte!), dann erst scheint der Weg ein wenig freier auf ein selbstbestimmtes Leben. Ein Leben, dass sich nicht mehr komplett nach der Normgesellschaft ausrichtet, sondern nach den eigenen Grenzen und Bedürfnissen! 

Und auch das wird nicht immer einfach sein, aber zumindest gibt es eine kleine Chance auf ein authentisches und erfülltes Leben. 

Und nun? 

Das bleibt abzuwarten… 

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