Meine Gefühle und Gedanken 10 Jahre später…

In diesem Winter ist es ein Jahrzehnt her, seit ich den Kontakt zu meiner Ex-Mutter abgebrochen habe. 10 lange Jahre ohne Kontakt, mit Gedanken und Gefühlen wie auf der Achterbahn. Mit Looping und Brechreiz, mit Schwindel und Heilung. Und ich kann heute stolz auf mich sein. Ich bin „drüber weg“. 

Wie ich das geschafft habe? Das weiß ich selber gar nicht so genau. Fakt ist, dass ich nicht mehr wütend bin. Es gab Zeiten, da bin ich geradezu explosiv von 0 auf 100 zurück in diese Wut und Enttäuschung, die ich damals im Dezember 2015 gefühlte habe, als ich das letzte Mal mein Elternhaus verließ

Wieso Ex-Mutter?

Ich habe oft den Begriff Erzeugerin genannt, um sie nicht Mama oder Mutter zu nennen. Aber sie ist nicht nur die Erzeugerin gewesen. Es gab auch gute Momente. Sie liebte mich ganz bestimmt, sie hat mich zur Welt gebracht und es war einfach meine Mama, die auch ich liebte, da bin ich sicher. Aber sie hat(te) nun mal auch Fehler gemacht und war in bestimmten Situationen eben keine gute Mutter. Und welche Mutter hört oder liest sowas schon gerne?

Das vergleiche ich mit Ex-Freunden. Irgendwann fing das mit denen ja auch irgendwie positiv an. Man VERliebte sich, liebte sich vielleicht auch sogar später und dann änderte es sich in der Beziehung, tja und dann wurde aus Liebe irgendwann Abneigung, weil man nicht die gleiche Welle ritt. Von Hass oder dergleichen will ich da noch gar nicht sprechen. (Und ich möchte hier anmerken, dass ich Hass nicht als Gegenteil von Liebe betrachte – aber das ist einen anderen Blogbeitrag wert.)

Aber Fakt ist, man trennte sich und ich wurde zur Ex-Freundin und er wurde zum Ex-Freund. Die Vergangenheit mit den guten Zeiten kann man deswegen nicht einfach vergessen oder ungeschehen machen – es bleibt diese Verbindung der gemeinsamen vergangenen Geschichte bestehen – ob man will oder nicht. 

Und so ist es mit meiner Ex-Mutter ja auch irgendwie. Es gab die Geburt, meine Kindheit, die Mutter-Tochter-Beziehung und auch Liebe und Vertrauen. Aber irgendwann kam die Pubertät hinzu und ich wurde „schwierig“. Ja, ich! Jedenfalls wurde mir das damals immer so suggeriert und ich glaubte es auch noch.

Heute weiß ich zum Beispiel, dass Launen und „schwierige“ Teenies leider auch sehr unter hormoneller Schwankungen leiden, die sogar Depressionen und erneuten (sogar entzündlichen) Milchschorf auf der Kopfhaut auslösen können. Selbst das Gehirn arbeitet völlig anders, weil es sich komplett verändert!

Im Gehirn von Teenagern finden nämlich während der Pubertät tiefgreifende Umbauprozesse statt, die sich in Stimmungsschwankungen, Risikobereitschaft und der Stärke der Gefühle äußern. Ungenutzte Nervenverbindungen werden abgebaut und häufig genutzte verstärkt, während der für Planung und Kontrolle zuständige Stirnlappen (Frontalhirn) noch unreift ist. Dies führt zu einem Ungleichgewicht, bei dem das emotionale limbische System über das noch nicht voll entwickelte frontale Kontrollsystem dominiert, was die Impulsivität und den Wunsch nach sozialen Erfahrungen erklärt. Kein Wunder, dass Eltern da komisch werden und keine Ahnung haben, wie das Kind grad tickt. Auch in der Mutter-Teenie-Beziehung kommt es dann halt zu einem Ungleichgewicht. Woher hätte meine Ex-Mutter damals auch wissen sollen, was pathologisch und psychisch im eigenen Kind vorgeht, wenn sie nicht grad Neurologin oder Psychiaterin wäre, sondern nur eine gelernte Hauswirtschafterin, Hausfrau und Mutter?

Und auch die Zeit in der Schule mit dem ganzen Mobbing wurde leider früher gar nicht wirklich ernst genommen oder von Eltern sowie Lehrkräften begleitet. Wie auch? Auch in diesem Berufsfeld der Lehrkräfte ist bis scheinbar heute nicht bekannt, was pathologisch und psychisch in Kindern passiert während der Umbauphase im Hirn. So kann ja auch für das Mobbing-Opfer nichts erträglicher oder besser werden. Man wusste es damals vielleicht einfach noch nicht besser, während heute in allen Kanälen von Achtsamkeit, Mental Health und Psychischer Gesundheit gesprochen wird. (Aber auch heute gibt es leider noch viele Menschen – Eltern oder Lehrkräfte, die die Augen vor Hintergrundwissen verschließen.)

Und wer weiß, vielleicht hätte meine Ex-Mutter mich auch damals viel besser über all das Wichtige über meinen Körper oder weiß der Geier aufgeklärt, wenn damals nicht alles tabuisiert worden wäre wie zum Beispiel die Menstruation (damals war das ja alles andere als positiv und normal, es war eher eklig, schmutzig, schlecht und unrein), die Sexualität (pfffff, darüber spricht man ja heute noch kaum!) oder die psychische Gesundheit ab der Pubertät (Hormone? Nein, die ist nur zickig oder hat ihre Tage..). Ich glaube heute nicht mehr daran, dass sie das alles extra gemacht hat, um mir bewusst zu schaden. Sie machte das vermutlich unbewusst, weil sie selbst vielleicht unerfüllte Bedürfnisse hatte. Sie wusste es einfach nicht besser und weiß es vermutlich auch bis heute nicht, was ich mir von ihr gewünscht hätte. Und was ich mir gewünscht hätte, kann auch ich erst heute so richtig in Worte fassen, weil ich mich selber ja auch weiter entwickelt und belesen habe. Ich wollte damals nur

  • Gesehen werden.
  • Gehört werden.
  • Ernst genommen werden.
  • Aufgeklärt werden. 
  • Beschützt werden.

10 Jahre ist es nun her seit dem letzten Kontakt mit ihr. 10 lange Jahre ohne Kontakt, mit Gedanken und Gefühlen wie auf der Achterbahn. Die ersten Jahre hab ich nur Wut und Enttäuschung empfunden. Wie konnte sie nur so handeln oder mich fallen lassen? Das konnte ich einfach nicht verstehen! Ich war doch ihre Tochter! Wie kann eine Mutter so kalt  und ignorant sein? (1. Phase der Trauer: „es nicht wahrhaben wollen“)

Bei jedem Gedanken an sie kam die Wut und der Ärger wieder hoch. Ich konnte nicht mal darüber sprechen und es war auch unmenschlich schwer für mich, meinen Kindern nicht auch meine Wut aufzudrängen, sondern neutral zu bleiben und zu sagen, dass die Oma einfach keine Zeit hat, sonst würde sie ja anrufen. Es verlangte alles an Kraft von mir ab, da nicht einzuknicken und den Kindern meine Wut und mein Hass gegenüber der Oma zu äußern. (2. Phase der Trauer: „Zorn“) 

Es gab Phasen, da schrieb ich stille Briefe an sie, teils sogar an mich selbst. Wieso ist so viel bei uns kaputt gegangen? Wieso haben wir uns immer schon so angegangen und nicht einigen können? Wieso hatten wir nie diese heile Welt auch für uns, die sie am liebsten nach außen hin repräsentieren wollte? Lag es wirklich alles an mir? War ich so eine üble Tochter? Oder waren es auch teils ihre Fehler? Es waren Monate und Jahre, die in mir drinnen ein Sturm tobte voller Zweifel und offenen Fragen und der Erkenntnis, dass sie nun als meine Mutter für immer weg war. (3. Phase der Trauer: „Verhandlung“)

Dann kamen ebenso lange Monate und Jahre die Gedanken, wie ich das alles ohne sie schaffen soll. Sie war doch die einzige, die uns noch geblieben war aus meiner Familie. Wen sollte ich fragen, wenn es um Erziehung oder Erinnerungen aus alten Zeiten ging? Wem sollte ich von Entwicklungs-Meilensteinen meiner Kinder freudestrahlend berichten, wenn nicht ihr? Die Erkenntnis, dass sie nun kein Teil mehr unserer Familie ist, geschweige unseres Lebens mit allen Höhen und Tiefen, brach mir das Herz und ließ mich in ein schwarzes Loch fallen, aus dem ich so schnell nicht mehr raus kam. Ich fühlte mich allein gelassen von ihr und traurig. Es war so real geworden, das sie keine Rolle mehr bei uns spielt. (4. Phase der Trauer: „Depression“)

Und heute, 10 Jahre später, befinde ich mich seit ca. 2 Jahren in dem Gefühl, dass es alles richtig ist, wie es ist. Ich habe mich von ihr im Dezember 2015 getrennt, um zu heilen. Um alte Knoten aufzubinden und meinen eigenen Weg zu finden – für und mit meinen Kindern und meinem Mann! In meiner eigenen kleinen Familie. Um nicht ihre Fehler mit in mein Leben oder in das Leben meiner Kinder zu verknüpfen. Die Fehler, die mich so leiden ließen, weil meine Ex-Mutter es damals nicht besser wusste. 

  • Ich sehe meine Kinder mit all ihren Schwierigkeiten und Ängsten.
  • Ich höre meinen Kindern aufmerksam zu, wenn sie sich mir anvertrauen.
  • Ich nehme alle Gedanken, Ängste, Sorgen und Erzählungen meiner Kinder ernst. 
  • Ich kläre meine Kinder ohne Tabus auf und bin immer aufrichtig zu ihnen. 
  • Ich beschütze meine Kinder in der Not, helfe ihnen zurechtzukommen und gebe ihnen das Selbstvertrauen, auch an sich selbst zu glauben.
  • Ich teile meine eigenen Gefühle und Gedanken (alters- und kindgerecht) mit meinen Kindern, um auch ihnen Vertrauen zu geben und zu zeigen.

Und ich verstehe inzwischen, was es heißt, neurodivergent zu sein! 

Heute, 10 Jahre später, wünsche ich mir, dass es meiner ehemaligen Mama gut geht und sie genauso heilen durfte ohne mich und den immer wiederkehrenden Streit zwischen uns. Ich wünsche mir für sie ein gesundes und langes Leben ohne Verbitterung und Trauer. Denn sie sorgte dafür, dass ich zu dem aufrichtigen Menschen werden konnte, der ich für mich heute sein wollte. (5. Phase der Trauer: „Zustimmung“) 

Es war ein langer, kein übereilter und ein gut überlegter Abschied. Heute geht es mir gut damit und ich bin wirklich froh, dass ich sie nicht mehr hasse oder wegen bestimmter Situationen von damals wütend werde. Ich habe die innere Ruhe wiedererlangt und wünsche mir das für sie auch. Aufrichtig!

Ob sie mir fehlt? Nein, nicht einen einzigen Tag. Das hat sie noch nie, wenn wir mal keinen Kontakt hatten – was ja schon häufiger vorkam, als ich mit fast 18 Jahren ausgezogen war.

Mir fehlt sicher eine Person, die eine Art Mutterrolle für mich darstellt, wie ich sie bei anderen Töchtern mit liebevollen Müttern mitbekam. Eine Mutter, die Erinnerungen mit ihrer Tochter teilt oder mit der sie über bereits verstorbene und/ oder geliebte Menschen aus der Zeit von damals sprechen könnte. 

Die Vergangenheit kehrt niemals zurück. Manchmal ist das besser so, und manchmal ist das unsagbar schmerzvoll, dies akzeptieren zu müssen. 

Alles Liebe für dich, Gabi! 

Deine Ex-Tochter Stefanie

Liliana  

 

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