Nun sitze ich hier in der ruhigen Wohnung, genieße den Rest vom Kuchen – Gedanken schweifen..
Letzten Donnerstag hatte ich Geburtstag und weil ich mich kurz vor diesem Tag eigentlich recht gut und ausgeglichen genug für eine kleine Party fühlte, habe ich nach langer Zeit das erste mal wieder ein paar enge Freunde und neue Bekanntschaften eingeladen.
Mein Plan bestand darin, ein paar Getränke und Leckereien wie Kuchen und einen Eintopf anzubieten, etwas zusammen zu sitzen und einfach unter lieben Menschen zu sein, die uns gerne besuchen. Besuch war bei uns eher selten der Fall. Der Plan klang wirklich super – bis zu diesem Tag!
Hier sei angemerkt, dass ich es auch weiterhin in keinster Weise bereue, diese lieben Menschen wie geplant um mich gehabt zu haben! Es war wirklich toll, oberflächliches Geplänkel sowie tiefgründige Gespräche zu führen, in Erinnerungen zu schwelgen, sich für weitere Treffen zu verabreden und auch weithergereiste Gäste jede Sekunde zu genießen! Es war ein wundervolles Zusammentreffen verschiedener lieber Menschen!
Es waren also um die 10 Personen da und insgesamt 3 Kinder und 2 Babies. Man kann sich bestimmt vorstellen, wie der Geräuschpegel in der Wohnung war – es wurde jedenfalls nicht geflüstert und die Babies kamen ja auch nicht ohne Stimme in diese Welt! Es war also sehr lebhaft und ab und zu recht laut – so wie ich es vor einigen Jahren noch toll fand und wirklich nicht störend!
Es hat sich aber alles irgendwie geändert. Sobald es etwas lauter einhergeht oder lebhafter wird, wenn 10 Personen auf zwei Räume verteilt sind, in denen noch zwei Babies hin und wieder die Stimmchen erheben und auch noch drei lebhafte Kindergarten-Kinder rumspringen, wird es für mich und besonders für meinen Sohn Vincent sehr anstrengend.
Als Mama eines Autisten mit einer drohenden Reizüberflutung ist es die Hölle. Man lernt in den Reaktionen des Kindes zu lesen, wann es schlussendlich genug ist. Aber man kann und man will auch nicht alle vor die Tür schicken, bis der kleine Prinz sich beruhigt hat, bevor es zum Showdown kommt – nämlich zu einem sogenannten „Meltdown“.
Hier eine kleine Exkursion für alle, die diese Begriffe wie overload, meltdown und shutdown nicht kennen oder zuordnen können:
Overload – Nervenzusammenbruch aufgrund von Überlastung
Der Overload ist eine „sensorische“ Überbelastung. Overload selber äußern sich weder „aggressiv“ noch in einer völligen „Abschaltung“. Beim Overload staut sich ein Reiz nach dem nächsten an; das vorbeifahrende Auto, die summende Biene, das Gespräch nebenan, das Radio – alles kumuliert sich so lange bis es wie ein lautes undurchdringliches, ungefiltertes Getöse auf einen einwirkt.
Viele reagieren darauf mit Unruhe, Rückzug oder Ohren zuhalten. Manche Autisten haben gelernt, sich selbst zu stimulieren, um sich vor dem Overload zu schützen. z.B. durch monotones Singen, das Aufsagen von Reimen, Hin- und Herschaukeln, Drehen von Gegenständen usw.
Meltdown – Wutausbruch/ Ventil hält den Druck nicht mehr aus
Die Folge eines Overloads ohne Rückzugsmöglichkeit kann der sog. Meltdown („Kernschmelze“, Wutausbruch) sein. Normalerweise gibt es Vorboten: Kopfschmerzen, innere Unruhe, noch stärkere Licht-, Geruch-, Geräusch- und Berührungsempfindlichkeit, Weglaufgedanken, stärkere Gereiztheit und ähnliche Körperreaktionen wie auch der Overload selbst. Der Meltdown ist dementsprechend oft eine Folge des “missachteten” Overloads.
Der Meltdown ist eigentlich irgendwo zwischen dem Overload und dem Shutdown angesiedelt. Wie bei dem Shutdown kann er durch einen Overload aber auch durch Stress ausgelöst werden. Einige haben dann totale Ausraster und schreien hysterisch rum. Der Meltdown äußerte sich im Zusammenbrechen, sich schlagen, Dinge umwerfen, den Kopf gegen die Wand hauen, das Chaos loswerden wollen. Sie merken auch oft, dass sie sich daneben benehmen, aber sie haben in dem Moment keinerlei Kontrolle darüber. Diese Aggressionen sind aber eine Art Ventil, um das Chaos loszuwerden. In solchen Situationen sollte man nicht versuchen die Person festzuhalten, da der „Schmerz“ raus muss.
Shutdown – Abschaltung/ innerlicher Rückzug
Wenn kein Rückzug, keine Selbststimulation, kein Entrinnen aus dem Overload möglich ist, kann sich dieser auch zu einem Shutdown (=Abschalten) entwickeln. Ein Shutdown ist ein völliger Rückzug. Das kann an Ort und Stelle sein. Man rollt sich dann z.B. in eine Ecke und ist nicht mehr ansprechbar. Im Idealfall flüchtet man sich an einen sicheren Ort. Dort muss es dunkel und still sein. Viele nehmen dann äußere Reize nur noch gedämpft wie durch einen Schleier wahr. Viele bekommen dann sehr starke Kopfschmerzen und die Sinne sind auf das Äußerste gespannt.
Quelle: Asperger-Autismus
Ich sah also dabei zu wie Vincent immer weiter in einen Overload rein kam und konnte jedoch leider nicht viel dagegen unternehmen. In diesen Momenten wünschte ich mir, ich hätte nie Gäste eingeladen. War ich zu egoistisch, als ich die Einladungen abschickte? Ich hatte das Gefühl, zu egoistisch gehandelt zu haben, wo ich doch genau wissen konnte, dass der Tag für Vincent extrem anstrengend werden würde – und dennoch lud ich alle ein. Was für eine schlechte Mutter ich sein muss, ging mir immer wieder durch den Kopf, als ich spürte, dass es ihm langsam zu viel wurde.
Ich versuchte ihn etwas runterzuholen, was natürlich scheiterte bei dem Drumherum. Er wurde zunehmend immer wilder und irgendwann war es dann passiert – er schrie und rannte hin und her durch die Wohnung, schubste seine Schwester und das Besucherkind, warf mit Spielsachen um sich und tritt gegen Möbel und Türen. Für Nichtwissende schien er nur ein bockiges Kind zu sein, aber er war nun mitten in einem Wutausbruch, ohne es womöglich zu wollen.
Seine Schwester verzog sich nun mit dem Besucherkind in ihr Kinderzimmer, um zu spielen und ich schnappte mir Vincent in seinem Zimmer und schloss die Tür hinter uns. Auf dem Boden sitzend umarmte ich meinen Sohn, so dass er nicht weg konnte und redete beruhigend und leise auf ihn ein. Er wehrte sich und schlug um sich, biss mir in den Arm.. Nach einer kurzen Weile beruhigte er sich schließlich und kuschelte sich auf meinem Schoß ein.
Er erzählte plötzlich von seinen Autos und was er eben gespielt hatte – als wäre nie etwas geschehen. Ich fragte ihn leise, wieso er mich gebissen habe und zeigte auf seine tiefen Zahnabdrücke auf meinem Arm. Er schaute sich sein ‚Werk‘ an und dann mich und sagte fast schon mit trauriger Stimme, dass er das nicht wollte. Also weiß er ja, dass man nicht beißen darf!
Wir blieben noch eine gute Viertelstunde so sitzen und ich spielte mit ihm und einem Auto auf dem Straßen-Teppich. Danach gingen wir wieder zu den anderen Gästen und der Nachmittag verlief weiterhin ruhig. Als sich alle Gäste am Abend verabschiedeten, war Vincent sehr unruhig, jedoch schlief er die Nacht unerwartet ruhig.
Dennoch fragt man sich immer wieder, ob man bei weiteren Besuchen dieser Art in Zukunft Abstand nimmt. Aber auf alles kann und möchte man ja auch nicht bis in alle Ewigkeiten verzichten. Oder?