Achtung, jetzt beginnt ein Blogpost, dessen Ende ich jetzt bei dieser einen Zeile noch nicht kenne. Ich schreibe drauf los, weil ich mal wieder das Gefühl habe, einfach mal meine Gedanken zu ordnen. Sie überrollen mich die letzten Wochen doch arg und ich hinterfrage und reflektiere mich und mein Verhalten. Ich versuche geradezu mich zu analysieren und zu verstehen! Doch irgendwie bleibt ein großes Fragezeichen…
Ich begleite meinen Sohn Vincent (13) bereits sein Leben lang durch den Alltag! Gehe mit ihm durch die Autismus-Diagnostik, erkämpfe Hilfen für ihn wie Inklusion, Nachteilsausgleiche, Schulbegleitungen und HPT-Plätze. Ich kämpfe gegen Mobbing/ Bossing und Diskriminierung und manchmal auch gegen Windmühlen. Ich recherchiere seit 11 Jahren (!!) auf eigene Faust, was es mit Autismus und dazugehörigen Begriffen wie Meltdown, Shutdown, Skills, Overload, Masking und so weiter zu tun hat! Ich lese Bücher, Fachartikel und nehme das an, was mir Betreuer, Pädagogen und Psychologen mit auf den Weg geben.
Ich begleite Vincent alle zwei Jahre durch die erneute Diagnostik im Autismus Zentrum, welche Behörden von uns wegen neuer Anträge auf Hilfen einfordern, als würde sich seine Diagnose irgendwann noch mal wie durch ein Wunder ändern. Ich fragte mich auch oft in meinen ersten Jahren als Mama, ob ich an der Diagnose etwa die Schuld trage? War es durch Impfung? Man hört ja immer so viel… War es durch Kindheitstraumata? Die Trennung und der Sorgerechtsstreit und auch der spätere Todesfall haben ja doch so einige Spuren auf meiner Seele hinterlassen. Ist es erblich? Immerhin war mein Ex auch irgendwie anders.
Und nun ist Vincent in der Pubertät, fängt an sich körperlich und auch geistig noch mal zu verändern. Er merkt seit langem schon, dass er einfach anders ist, dass er auch wegen seiner Andersartigkeit im Visier der Mobber steht. Und er hat mich! Ich bin sein Wingman, ich bin seine Rettungsleine, ich bin sein schützender Hafen, der immer da ist, wenn er mich in einem Overload oder Meltdown benötigt.
Und dann gehe ich mit ihm durch die Gefühle und durch die Situation, bis er sich regulieren kann. Ich bin an seiner Seite, verbalisiere und helfe ihm, zu sortieren. Ich lese seine Körpersprache und versuche auch oft, zu vermitteln. Ich fühle mich oft wie eine Boje am Schiffsbug. Bloß alles absichern – zu jeder Seite hin!
Und dann ist wieder alles gut!
Und wenn alles wieder gut ist, hört es bei mir leider nicht auf zu arbeiten und im Kopf zu rattern! Wie kann ich einen Overload bei Vincent vorbeugen, wie kann ich weiter mit Stigmata aufräumen? Wie kann ich anderen in seinem Umfeld (Lehrkräften, Schulkindern, Busfahrern, etc.) klar machen, dass er nicht bockig ist, sondern nur hilflos?
Und wie zum Geier habe ich das in meiner eigenen Jugend ohne so eine coole Mutter nur überlebt?
Ich bin ein Mobbing-Opfer seit der 5. bis zu 9. Klasse gewesen. Ich mochte noch nie SmallTalk, hasste damals schon Floskeln und brauchte schon immer gewisse Details, um etwas zu verstehen oder zu akzeptieren. Und wenn ich mal wieder verdroschen oder traurig nach der Schule heim kam, hieß es von meiner Mutter nur gleich: „Und was hast du gemacht, dass die anderen dich geärgert haben?“ oder „Stell dich nicht so an, so sind die Kids eben!“
Jetzt, wo mein Ältester durch die Pubertät muss, sehe ich so vieles von meiner Jugend wieder und durchlebe es erneut. Ich sehe plötzlich so viele Parallelen zwischen unserer beider Schulzeit, dass mir schlecht wird. Ich habe Angst! Ich möchte auf keinen Fall, dass er sowas durchmachen muss wie ich damals! Allein!
Und dennoch: so viele Parallelen!? Ist es doch `ne Erbgeschichte?
Und dann sind da diese Instagram-Profile, deren Inhalte so viel geben!
Die Löffel-Theorie, der Colaflaschen-Effekt, die Mutmachleute, Neurodiversität, Awareness-Days, Webinare über AD(H)S/ Autismus, Alltags-Struggle von spät-diagnostizierten Frauen im Autismus Spektrum, u.s.w.! Je mehr ich der Thematik meine Aufmerksamkeit schenken, oh herzlichen Dank heiliger Algorithmus, desto mehr wird mir zum Thema Autismus und Aufklärung oder selbst Betroffene und ihre alltäglichen Struggle in der neurotypischen Schubladen-Gesellschaft angezeigt.
Ich war schon immer anders. In meiner Kindheit, Jugend und auch im Erwachsenenalter! Und durch das Begleiten meines Sohnes und das Kämpfen für meinen Sohn werde ich dessen nur immer bewusster und (hinter)frage mich immer häufiger: bin ich genug? Bin ich richtig? Bin ich vielleicht sogar neurodivers – was immer das auch heißen mag?
Wieso stoße ich anderen Menschen oft sauer auf? Wieso distanzieren sich viele nach kurzer Zeit, wenn ich mal wieder viel zu offen und direkt rausgehauen habe, was ich denke, empfinde oder meine? Wieso habe ich mein Leben lang nicht viele Freundinnen oder Freunde, sondern immer nur weniger als eine Hand voll, während andere in großen Cliquen über Jahrzehnte durch dick und dünn gehen?
Ich habe immer nur sehr wenige Freundschaften gehabt. Der Rest war bekannt, aber nie im inneren Kreis. Oder ich dachte, es sei der innere Kreis, bis man mich gemieden hat.
Und dann kam Corona… Ich war von Stunde null an eine Zweiflerin, hinterfragte alles und wollte Details und Sichtweisen aus allen (!) Richtungen. Ich gewöhnte mich an die stille Zeit der Kontakteinschränkungen und genoss diese Ruhe mit nur sehr wenig sozialer Interaktion oder ohne diese Menschenmassen. Nun ist der Wahnsinn vorbei und ich habe schon Schwierigkeiten, ohne Kopfhörer zum Einkaufen zu gehen! Ich drehe hohl, wenn mehrere Menschen durcheinander sprechen, werde unsicher wenn sich Pläne oder Abläufe spontan ändern und komme kaum damit zurecht, wenn etwas, was ich tue, nicht perfekt wird. Ich beiße bei Überforderung meine Wangentasche blutig, knibble an der Nagelhaut bis ins Leben, kratze Stellen auf der Kopfhaut blutig oder erstarre und breche heulend zusammen. Panikattacken habe ich seit 2022 regelmäßig. Und auch Phasen im Hyperfokus kann ich auf der Liste der Auffälligkeiten abhaken – Freundinnen können dieses bezeugen und fragten schon häufiger, ob ich denn überhaupt noch schlafe.
Ich war insgeheim schon immer so, nur habe ich vermutlich mehr ertragen können, bevor ich in diese stille Corona-Bubble gedrängt wurde Und danach meine ersten Meltdowns und Shutdowns als diese auch empfunden habe. Es war eine erschreckende Erkenntnis für mich, dass ich wegen „Lappalien“ zusammenbreche! Mitten am Tag, mitten in meiner Küche, während ich koche…
Und dann kam diese eine Freundin, die ihre Gedanken über das Kennenlernen mit mir in ihrem Blogpost niederschrieb:
[…]So also traf ich das erste Mal auf Lili (Liliana, ob ich wohl Lili sagen darf? Das dürfen wahrscheinlich nur ihre Freunde. Warum ist sie so anders? Sie ist anders, oder täusche ich mich?) Dann war ja irgendwann im August letzten Jahres mein Neuerstellungstermin in Unterdießen. Vorher Beratungstermin über Zoom (gleich mal zaghaft in das erste Fettnäpfchen getapst. Beratungstermin über Zoom???? Halloooo???). Mir war nach schnattern („Hey, Kollegin, zeig mal deine Sachen her, was hast du alles rumstehen?“), Lili eher nicht („..ja, also, wir haben jetzt 40 Minuten Zeit, wir sollten mal anfangen.“). Beim Präsenztermin war es nicht anders. Lili war erst mal reserviert („Du bist zu früh! Ich hab meinen Kaffee noch nicht getrunken!“). Es war kurz vor 9 Uhr. Erster Eindruck? „Na prima.“ Also Grinsen ins Gesicht zimmern und rein in die gute Stube. Beim Dreaden verbringt man dann doch ein paar Stunden miteinander. Und irgendwann wusste ich, was an Lili so anders war: Sie war genauso „im Herzen barfuß“ wie ich. Keine Spielchen, keine Masken. Du bekommst, was du siehst. Nicht mehr, nicht weniger. Wenn man das weiß ist klar wie man sich dem anderen gegenüber verhalten muss, es gibt nur eine Regel: Authentisch sein, echt, ungefiltert, empathisch. Man weiß wie sich Illoyalität anfühlt und das will man dem anderen nicht antun. Ich verrate hier auch keine Geheimnisse. Lilis Transparenz Allem gegenüber ist bekannt. Und das finde ich großartig.[…]
(Den ganzen Blogpost „Barfuß im Herzen“ kannst du bei meiner lieben Freundin und Kollegin Lissy lesen.)
Als ich die Zeilen las, brachen alle Dämme! Sie schrieb über mich so liebevoll und wertschätzend – und doch irgendwie auch bestätigend, was ich auch von mir über mich vermutete aber bisher nie so bewusst. Ich nahm die Zeilen an. Aber nicht wertend oder negativ. Eher umarmend und wertschätzend und vor allem: genug! Ich war nie falsch, ich bin authentisch! Ich bin die ehrlichste Haut auf dem Planeten und Ungerechtigkeit bereitet mir oft sogar körperliche Schmerzen.
Und dann ist da noch meine Freundin Andrea, die mir so viel beibrachte (Alltagsstrategien, Skills, Achtsamkeit, etc.) und mir so viel hilft mit Vincent! Sie ist selber Autistin und kennt es selbst, wenn man nicht in die sogenannten Schubladen der Gesellschaft passt. Wie dankbar ich ihr bin, passt auf kein Flugzeugrollfeld! Ernsthaft, wieso heißt das überhaupt Kuhhaut?
Mittlerweile sage ich selbst von mir, dass ich ganz sicher im „Team Neurodivergent“ mitspiele! Was genau das Spiel ist, bleibt abzuwarten, aber ich werde mich definitiv um eine Diagnostik bemühen, um meine Frage nach dem „Hää?“ zu klären!
Wer bin ich und was bin ich?
Denn wie Linda Titze auf Instagram schrieb :
Mal sehen, wo mich mein weiterer Weg hinführt.. Ich danke jedenfalls allen tollen Content-Creators auf Instagram, die so tolle Aufklärungsarbeit betreiben über Neurodiversität und Autismus! Vielleicht erstelle ich mal eine Liste derer, denen man unbedingt folgen sollte!
3 Gedanken zu „Wieso ich (mich) immer mehr hinterfrage…“
Das ist der Punkt. Andere zu nehmen wie sie sind. Ich habe durch dich viel über das Thema Neurodivergenz erfahren dürfen, einige Parallelen zu einem meiner Kinder ziehen und feststellen müssen, was ich alles falsch gemacht habe. Wie du habe ich mich nach dem Warum und Wie gefragt. Aber es spielt keine Rolle. Man muss eine Möglichkeit finden mit dem Ist-Zustand zurecht zu kommen. Rückwirkend lässt sich nichts ändern. Du bist das Beispiel dafür, dass man daraus durchaus eine Tugend machen kann. Wären da nur nicht immer die Leute, denen man erst erklären muss, wie man funktioniert. Du weißt wie sehr ich dich als Mensch, Person, Kollegin und Freundin schätze. Es sollten mehr Menschen „barfuß“ rumlaufen. Dann hat man vielleicht mehr Verständnis für Menschen, die „anders“ sind, wenn alle denselben Schmerz nachfühlen können
Ich hab Dir ja bereits schon oft geschrieben und gesagt was für eine tolle Mama Du bist und dass Vincent und die anderen beiden Mäuse sooo dankbar sein können, so eine tolle Löwenmama wie Dich zu haben.
Wir beide haben ja schon sehr viele Parallelen zwischen uns entdeckt wie z.B. die „wenige“ Freundschaften, das Verlangen nach Ruhe, die Überforderung wenn sich Abläufe und Pläne ändern und vieles weitere.
Die Verbindung die wir haben ist etwas ganz besonderes was ich sehr schätze und Lissy hat das sehr gut geschrieben, „Barfuß im Herzen“ trifft doch den Nagel auf dem Kopf.
Um Dich herum hat sich in so kurzer Zeit ein so toller Kreis gebildet von wundervollen Seelen die sehr ähnlich ticken.
Ich bin sehr stolz darauf ein Teil davon sein zu dürfen.
Huhu
Ich hab deinen Blog Post von gestern gelesen.
Ich kann auch Referenzen ziehen 👍🏻
20 Jahre undiagnostiziert ADS/ADHS und meine Tochter spiegelt meinen Weg so gruselig exakt wieder, dass ich angefangen habe zu forschen und zu recherchieren, um ihr das Leid zu ersparen, durch das ich gegangen bin.
Im Grunde ist es egal wie genau die Diagnose von „anders sein“ heißt, es hilft nur eben einfach, zu verstehen, sich zu verstehen, sich mit etwas zu identifizieren und irgendwo anzukommen, nachdem man sich ein Leben lang gefühlt hat, wie ein Alien, das irgendwie auf dem falschen Planeten gelandet ist und einfach die Rasse „Mensch“ nicht so gut versteht.🤔
Es gibt viele „Aliens“ da draußen, mehr als sie selbst wissen…
Ich sehe das bei uns im Motorradclub, da treffen sich nach einem halben Leben, so viele von den ehemals ausgestoßenen, verlorenen Freaks, die keiner mochte oder die einfach immer schon anders waren. Da ist absolut alles an Neurodiversität (schönes Wort!) dabei, was man sich vorstellen kann – der ganze Blumenstrauß, aber unterm Strich läuft keiner wirklich rund und das macht es so toll, weil das „ich darf so sein wie ich bin“ eine völlig andere Qualität bekommt.
Verständnis und Akzeptanz.
Also, das was ich vielleicht sagen möchte damit 🤔:
Du bist nicht allein – auch wenn es sich manchmal so anfühlt vielleicht.
Du musst nur deine Aliens finden 😉
Der innere Detektor ist übrigens sehr zuverlässig. Wenn man mit jemandem so richtig in Schwingung kommt, dann kann man davon ausgehen, dass das Gehirn auf ner ähnlichen „neurodiversen“ Welle läuft.
Deswegen hat es auch zwischen uns von Anfang an so gut gepasst…davon bin ich überzeugt…🤷🏼♀️
Schön, dass du jetzt für dich diese Reise auch antrittst.
Es ist eine Form von Verantwortung für sich selbst übernehmen.
Ich wünsche dir, dass dir das noch mehr Frieden mit all dem Mist, den du erlebt hast schenkt.
Mir hat die ADS Diagnose und das ganze Wissen darum und die Konsequenzen bei meiner Tochter usw. auch ermöglicht z.b. meinen Eltern vollständig zu verzeihen, weil ich (und meine Schwester) machen ihnen jetzt mit unseren Kindern vor, wie man (anstatt es zu ignorieren) deutlich besser damit umgehen kann, wenn man Kinder hat, die anders als die anderen Kinder sind.
Meine Schwester hat gleich 3 von der Sorte (3,5,7J in unterschiedlichen neurodiversen Ausführungen) und ich ziehe zutiefst den Hut vor ihr, dass sie noch nicht schon völlig durchgedreht ist.
Und unsere Eltern spielen mit, nehmen Rücksicht und manchmal hab ich so unterschwellig das Gefühl, dass es ihnen jetzt leid tut, dass sie meine Schwester und mich damals als Kinder und Jugendliche so blind in unseren wahren Bedürfnissen ignoriert haben.
Das ist mir genug.